blättersammlung


hier finden sich lose textbeiträge, die in zusammenhang mit meiner arbeit und meinen lesungen stehen.

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lesung am 06. 02. 2024 im bürgerhaus stollwerk, köln

folgenden text habe ich vor "GRÜNES BLUT" gelesen. eigentlich von einem nietzscheanschen menschenbild ausgehend, aber meinem kantschen pflichtbegriff nicht widersprechend, deshalb also noch zum philosophischen kant-forschungsprojekt passend, das die veranstaltung "ethik des zuhörens" organisiert hatte.

"Gegen Ende des letzten Jahrhunderts hat man sich in meiner alten und in ihrer mir vertrauten Form nicht mehr existierenden Heimat in den strahlend erscheinenden vermeintlichen Leistungen von Staat und Staatsvolk gesonnt, und an als barbarisch betrachtete Rückfälle in Form von Kriegen zwischen den Völkern glaubte man angeblich genau so wenig, wie an Hexerei und Gespenster - erst recht nicht zwischen Völkern, die ein gemeinsames Volk geworden zu sein schienen.

Nun, dass mit Hexerei und Gespenstern hätte mir, wenn ich mir das im nach hinein überlege, gleich merkwürdig vorkommen müssen, wenn ich da an meine Mutter und viele meiner Nachbarinnen mit unterschiedlichster ethnischer Herkunft denke.

Auch ich glaubte an die geradezu natürliche Bindungskraft von Toleranz und Konzilianz.

Ich dachte, dass sich nicht nur in Jugoslawien, sondern in ganz Europa, die Konflikte zwischen Nationalstaaten, Ethnien und Konfessionen allmählich aber sicher zumindest in Wohlwollen auflösen würden. Ich dachte, es gäbe so etwas, wie historischen Fortschritt, in dem Humanität, Frieden und Lebenssicherheit die höchsten nicht materiellen Güter seien, die, wenn nicht jetzt, dann bald, allen Menschenkindern zustehen würden.

Doch spätestens seit das, was vielen in ihren Illusionen lebenden Menschen, wie ich damals, wie ein unvorhersehbarer Gewittersturm vorkam, über meine alte Heimat und einen großen Teil Osteuropas hinweg zog und alles zerschlug, was einem so vertraut und gewiss erschien, weiß ich, dass eine Welt, die auf Sicherheit, Gewissheiten und sich menschenfreundlich entwickelnde Geschichte ausgerichtet ist, reine Illusion ist.

Diese Art Weltgebäude ist ein schönes, altes Traumschloss, und kaum jemand scheint zu erkennen, dass die Abrissbirne schon in Bereitschaft hin und her schwingt, Statt den Baggerfahrer zu stoppen und zugleich das Gebäude mit Realismus zu stärken, träumen die meisten lieber weiter vor hin.

Das Wörtchen "Sicherheit" geistert, wie ein Phantom durch das Vokabular der Sprachen. Auch der Glaube, dass technische Entwicklung und das permanente Schaffen von ökonomischem Mehrwert mit der Aufrechterhaltung humanistischer Ethik gemeinsam voran schreiten müssten.

Wir leben in Absurdistan.

Nicht nur in dem einen oder anderem Land in der Ferne, sondern überall.

Jeden Augenblick können unsere Sicherheiten von den allzu menschlichen destruktiven Kräften zerschlagen werden.

Wer diese Erfahrung bereits hat machen müssen, wer so seine Heimat, ideell, wie materiell bereits verloren hat, hat sich in der Fremde allmählich daran gewöhnen müssen, seinen Weg in jedem Land ohne Boden unter den Füßen gehen zu müssen.

Als Schriftstellerin habe ich das in Inhalt und Form zu berücksichtigen, den erwähnten Baggerfahrer mit seiner Abrissbirne bewusst zu machen und vor allem keine neuen Traumschlösser aufzubauen."

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